Behindertenfreundlich
Eine Musterstadt für Barrierefreiheit
Abensberg als Musterstadt für Barrierefreiheit
Trotz der nicht einfachen Voraussetzungen hat es die 15.000-Einwohner-Stadt im Landkreis Kelheim geschafft, schon viele Barrieren abzubauen. Dafür sorgt vor allem Marion Huber-Schallner. Die 52-Jährige ist die Behindertenbeauftragte der Stadt und seit 2020 auch dritte Bürgermeisterin. Rote Jacke, rote Schuhe. Das ist das Erste, was ich von ihr sehe. Dazu ein gewinnendes Lächeln. Die Kommunalpolitikerin wartet an der Eingangstür zum Rathaus. Gäbe es nur die Treppe als Zugang, so hätte sie Hilfe gebraucht. Denn Marion Huber-Schallner sitzt im Rollstuhl. Der Weg ins Rathaus führt für sie über eine Rampe. Auch im Gebäude hat sie kein Problem: Seit einem Umbau ist es barrierefrei. Dafür sorgt ein Aufzug und es gibt Toiletten für Menschen mit Behinderung. Für Blinde und Sehbehinderte wurde in den Handlauf als Wegweiser Blindenschrift eingearbeitet. Oft setzt solchen Umbauten aber der Denkmalschutz Grenzen.
Barrieren lauern überall
26 Jahre alt war die Abensbergerin, als sie mit dem Auto schwer verunglückte. Genauso lange, wie sie sich frei und ohne Hilfe bewegen konnte, erlebt sie inzwischen den Alltag aus der Perspektive einer sogenannten „Behinderten“. Und diese Perspektive ist in Deutschland immer noch nicht rosig: Denn Barrieren „lauern“ überall. „Ob fehlende Fahrstühle, hohe Bordsteinkanten, Hürden an Bushaltestellen oder nicht barrierefreie Eingänge ins Restaurant und ins Theater - all das macht das Leben sehr beschwerlich“, sagt Marion Huber-Schallner. „Es verhindert, am Leben genauso teilnehmen zu können wie nicht-behinderte Menschen.“ Die Kommunen sollten daher alles daransetzen, bestmögliche Bedingungen für Menschen mit Sehbehinderungen und für Gehörlose zu schaffen. „Informationen müssen auch Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung erreichen können. Dabei sind Flyer und Formulare in leichter Sprache und Piktogramme Voraussetzung.“
UN-Behindertenrechtskonvention seit 2009
Seit 2009 gilt auch in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Sie betrifft Lebensbereiche wie Barrierefreiheit, Mobilität, Gesundheit, Bildung wie Beschäftigung. Das Übereinkommen regelt, dass Menschen mit Behinderungen in die Mitte der Gesellschaft gehören. Dazu kommen mehrere Gesetze, etwa das Behindertengleichstellungsgesetz. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Kritik am Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Wie genau gebaut werden muss, regeln Verordnungen in den Bundesländern. Eine komplizierte Materie, hoch komplex - und so vielschichtig, dass Deutschland bei der Umsetzung der Ziele weitaus langsamer vorankommt, als sich das die Betroffenen und Interessenverbände wünschen. So kritisieren Verbände auch die zu langen Übergangszeiten und zu viele Ausnahmen in dem vom Bundestag im Mai 2021 beschlossenen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Es sieht vor, dass bestimmte Produkte und Dienstleistungen wie Webseiten künftig barrierefrei sein müssen, darunter Geldautomaten. Die Ampelkoalition auf Bundesebene hat in ihrem Koalitionsvertrag nur vage formuliert, den Einsatz für altersgerechtes Wohnen und Barriereabbau zu verstärken und die Mittel für das KfW-Programm „auskömmlich" aufzustocken. In diesem Jahr hat der Bund 75 Millionen Euro Fördermittel bereit gestellt. "Damit konnten 26.000 Wohnungen barrierereduziert umgebaut werden", so eine Sprecherin des Bauministeriums auf Anfrage.
Die vier größten Barrieren für Menschen mit Behinderten
Am häufigsten stören sich Menschen mit Behinderung in der Beweglichkeit, der Sinne oder mit einer Lernbehinderung an den vier räumlichen Barrie
ren: Stufen und Treppen, schlechter Straßenbelag, gesperrte Wege und schlechte Zugänglichkeit. Das hat eine repräsentative Umfrage ergeben. An fünfter Stelle nennen die Betroffenen schwierige Formulare. Barrieren abzubauen ist aber für alle Menschen bedeutend. „Für uns Kommunen ist da noch viel zu tun, aber wir sind auf einem guten Weg“, sagt Marion Huber Schallner.

Was können Kommunen konkret unternehmen, um bei dem auch rechtlich vorgeschriebenen Ziel der Barrierefreiheit voranzukommen? Marion Huber-Schallner zeigt beim KOMMUNAL- Besuch, was schon alles umgesetzt ist. Abensberg gilt inzwischen als Musterstadt der Barrierefreiheit. Die Altstadt war eine der ersten in Niederbayern, die nahezu komplett barrierefrei verändert wurde. Wir starten am Rathaus, steuern danach den Herzogskasten an. Das alte Gebäude beherbergt das Stadtmuseum. Von dort geht es vorbei an einem Hotel, das auch behindertengerechte Zimmer anbietet. In Abensberg sind längst alle Schulen und Kitas barrierefrei gestaltet – und es gibt eine Inklusionskita. „Wir haben schon 23 ´Bayern-barrierefrei-wir sind-dabei-Signets´ vom Sozialministerium erhalten“, erzählt die dritte Bürgermeisterin. Auch das Kino ist für alle problemlos zugänglich.
Perspektivwechsel vom Rollstuhl aus
Die Sonne kommt hervor und bringt Marion HuberSchallner in ihrer warmen Jacke leicht ins Schwitzen. Denn ihr Handbike erfordert viel Muskelkraft und Ausdauer. Dabei ist sie sehr sportlich: Die Mutter eines 19-jährigen Sohnes macht Paragliding, schwimmt viel, fährt gern Ski und liebt das Reisen. Ihr Motto: „Ich stehe mit beiden Beinen im Leben.“ Seit Jahren bietet die Behindertenbeauftragte die Aktion "Perspektivwechsel" an. „Dabei gebe ich Menschen die Möglichkeit, mal den Rollstuhl auszuprobieren.“ Und wer sich das traut, staunt, wie viele Hindernisse sich auftun. „Immer wieder höre ich dann: Ich glaube, der Rollstuhl ist kaputt“, so Marion Huber-Schallner. „Das liegt einfach daran, dass der Rollstuhl in die eine oder andere Richtung zieht, wenn das Gelände nicht eben ist.“ Auch der Bahnhof ist teilweise umgerüstet. Dort ist ein stufenfreier Einstieg in die Züge zumindest auf einem Gleis möglich. Zur Orientierung für blinde und sehbehinderte Menschen bekam der Bahnsteig ein taktiles Blindenleitsystem.

„Für mehr Barrierefreiheit gibt es zahlreiche Fördermittel“, sagt Marion Huber-Schallner. „Es lohnt sich, das zu recherchieren.“ Für die Kommunen hat sie mehrere Tipps: „Erkunden Sie, welche Behinderungsform in Ihrer Kommune am häufigsten ist, dann beginnen Sie damit und nehmen weitere Menschen mit Behinderung in den Blick.“ Ein weiterer Tipp: „Reden Sie mit den Unternehmen am Ort. Vor allem in der Gastronomie, die von den Krisen gebeutelt ist, braucht es noch mehr Schwung, um in eine Umgestaltung zu investieren.“ Was sich in Abensberg immer mehr bewährt: „Sobald ein Bauantrag vorliegt, komme ich mit den Antragstellern ins Gespräch. Denn wenn von Anfang an barrierefrei gedacht wird, ist das günstiger als später umzubauen.“ Besonders liegt ihr am Herzen: „Beseitigen Sie Ihre Barrieren im Kopf. Sprechen Sie mit den Menschen, was sie brauchen, ohne sie zu bevormunden.“ Marion Huber-Schallner engagiert sich auch auf Bundesebene. Sie ist, wie sie erzählt, die einzige ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit in dieser Funktion und hält Vorträge. Viele Kommunen in Deutschland zeichnen sich mittlerweile als vorbildliche Arbeitgeber aus.
Von Anfang an barrierefrei denken, ist günstiger, als später umzubauen.“ Marion Huber-Schallner, dritte Bürgermeisterin von Abensberg
Bürgermeister im Rollstuhl gibt Amt auf
Sich als Mensch mit Behinderung in der Politik zu engagieren, erfordert zusätzlich Kraft. Markus Ewald sitzt seit einem Autounfall im Rollstuhl.
Anfang dieses Jahres hat der Bürgermeister von Weingarten nach 13 Jahren sein Amt aufgegeben. Er hat Schmerzen und die Tage als Bürgermeister waren zu lang, die Termine zu viele. ZU KOMMUNAL sagte er nach seinem Unfall: „Ich kann manche Firmen nicht mehr besuchen, weil sie nicht barrierefrei sind.“ Auch er erlebt die Barrieren als belastend. „Wir hatten mehrere Preise für unsere Barrierefreiheit in der Innenstadt bekommen, aber wenn man selbst im Rollstuhl sitzt und jede Stufe spürt, sieht man das anders.“
Gehörlose Stadträtein in Weißenhorn
In Weißenhorn im Kreis Neu-Ulm ist Julia Probst seit Mai die erste gehörlose Stadträtin Bayerns. Sie fordert: „Wie Rollstuhlfahrern der Weg zum Bahngleis, muss Gehörlosen der Weg zu öffentlichen Informationen geebnet werden.“ Bei den Stadtratssitzungen ist für sie stets eine Dolmetscherin dabei. Denn sie bräuchte einen freien Blick auf jeden, der gerade spricht. Julia Probst kann von den Lippen lesen. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2010 twitterte sie erstmals unter dem Hashtag #Ableseservice, was Spieler sich auf dem Spielfeld gerade zuriefen. In Interviews sagt sie: „Es ist wichtig, dass die Politik barrierefrei wird." Es sollte völlig normal werden, Anträge in leichter Sprache und in Gebärdensprache zu stellen. Sie fordert: "Politik muss barrierefrei arbeiten.“ Denn: „Demokratie ist auch, wenn alle Menschen mitmachen können.“
Zu den Umfrageergebnissen Barrieren im Alltag.
Barrieren im öffentlichen Raum abbauen. Hier gibt es Fördermittel.