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Immer mehr Flüchtlinge in den Kommunen - die Stimmung droht vor Ort zu kippen
Immer mehr Flüchtlinge in den Kommunen - die Stimmung droht vor Ort zu kippen
© adobe

Wohnungsmarkt leergefegt

Flüchtlinge: Kommunen schlagen Alarm

von Benjamin Lassiwe
Reporter | KOMMUNAL
8. November 2022
"Unser Herz ist groß, aber unsere Möglichkeiten sind endlich". Diese Worte des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck aus dem Jahr 2015 zur Flüchtlingssituation sind heute aktueller denn je. Dramatischer noch, eine Bürgermeisterin sagt uns zur Stimmung in ihrem Ort: "Wir spüren: Es steht auf der Kippe". Die Angst vor neuen Massenunterkünften und neuen Protesten geht um. Ein Stimmungsbericht.

Deutschlands Kommunen erleben Flüchtlingszahlen wie in den Jahren 2015 und 2016. Doch der Wohnungsmarkt ist leergefegt: Massenunterkünfte in Turnhallen sind vielerorts nicht mehr vermeidbar. „Es besteht die Gefahr, dass wir die Menschen nicht mehr unterbringen können.“ Diesen Satz sprechen immer mehr Bürgermeister ganz offen aus. Die immer weiter steigende Zahl vor allem ukrainischer Kriegsflüchtlinge sprengt alle Dimensionen. Das System der Flüchtlingshilfe kommt an seine Kapazitätsgrenzen. Und die Kommunen im Land suchen verzweifelt nach Lösungen, um über den Winter zu kommen.

Flüchtlinge willkommen, aber in Grenzen 

Zum Beispiel Coesfeld. Bürgermeisterin Eliza Diekmann berichtet, dass in der Kreisstadt im westfälischen Münsterland die Stimmung gegenüber den Kriegsflüchtlingen zunächst richtig gut war. „Wir haben uns Ende Februar, Anfang März auf den Weg gemacht, und aktiv um privaten Wohnraum geworben“, sagt Diekmann. Damals habe es eine Riesenunterstützung in der Stadt gegeben: Bis zu 90 Haushalte boten ihre Unterstützung an. Flüchtlinge zogen in leerstehende Kinderzimmer, Ferienwohnungen, Gästezimmer. „Die Leute leben seit einem halben Jahr zusammen“, sagt Diekmann. „Und es funktioniert.“ Doch die Privatquartiere in Coesfeld reichen längst nicht mehr aus. 33 Wohnungen hat die Stadt für Flüchtlinge angemietet, ein leerstehendes Haus gekauft und ertüchtigt. „Aber nun ist der Wohnungsmarkt in der Stadt leergefegt, und wir müssen aufpassen, dass wir den Coesfeldern nicht die Möglichkeit nehmen, selbst an eine neue Wohnung zu kommen“, so die Bürgermeisterin und ergänzt: „Wir sind an unsere Grenzen gekommen.“ 

Coesfeld behilft sich derzeit mit Notunterkünften. Für 440.000 Euro mietete die Stadt für die Dauer von zwei Jahren Wohncontainer an, in denen weitere 56 Personen untergebracht werden können. Und die örtliche Dreifachturnhalle, in der normalerweise die Sportvereine trainieren, wird zu einer Notunterkunft für bis zu 140 Personen. „Theoretisch könnten wir dort sogar 192 Leute unterbringen“, sagt Diekmann. „Aber wir wollen es schon mit einem gewissen Standard machen: Wir hoffen auf einen Jugendherbergscharakter.“ So soll es keine Bauzäune rund um die Halle geben. Und man hofft auf eine „liebevolle Betreuung“ durch ehrenamtliche Helfer. 

Der Bund macht sich bei der Finanzierung einen "schlanken Fuß" 

Doch die Situation könnte den Wünschen der umtriebiegen Bürgermeisterin bald einen Strich durch die Rechnung machen. „Unser Problem ist, dass die Zuweisungszahlen unverändert hoch bleiben. Nicht nur aus der Ukraine, auch aus anderen Kriegs- und Krisengebieten kommen die Menschen zu uns.“ Für die Kreisstadt bedeutet das große Belastungen. Die Unterbringung von Flüchtlingen ist eine kommunale Pflichtaufgabe. Die Mehrkosten werden den Kommunen derzeit aber nicht erstattet. „Wir haben aus allen Fachbereichen in der Stadt Mitarbeiter abgezogen, die sich nur noch um das Thema Flüchtlinge kümmern“, so Diekmann. Und die Bewohner ihrer Kreisstadt müssen viele Einschnitte hinnehmen. „Eine Brandschau können wir im Moment beispielsweise nicht leisten: Unser Gebäudemanagement richtet Wohnungen her.“ Nötig sei eine intensivere Begleitung der Kommunen durch Bund und Land. Und vor allem mehr Geld. In sorgenvoller Miene fügt die 36-jährige hinzu: „Im Moment ist die Stimmung in Coesfeld noch gut. Aber wir spüren: Es steht auf der Kippe.“

Selbst in Hotels leben schon Flüchtlinge 

Eine knappe Autostunde weiter südlich, in Solingen, sieht es ähnlich aus. Dort gibt es im Moment 19 reguläre Übergangsheime mit einer Gesamtkapazität von 1.000 Plätzen, erklärt uns Stadtsprecher Daniel Hadrys. „2022 haben wir zwei Einrichtungen mit insgesamt 84 Plätzen reaktiviert sowie zwei Einrichtungen mit insgesamt 62 Plätzen neu angemietet.“ Dazu kommen weitere Plätze in Ferienwohnungen und einem Hotel. Die Stadt im Bergischen Land setzt dabei vor allem darauf, Flüchtlinge möglichst rasch in eigenen Wohnungen unterzubringen. Doch auch hier ist der Markt an preiswerten Wohnungen weitgehend leergefegt. „Mit Sammelunterkünften, Turnhallen und Zelt-Anlagen will die Stadt möglichst nicht arbeiten. Aber wir können das nicht ausschließen: Denn es ist nicht vorhersehbar, wie sich die Situation in der Ukraine und in anderen Staaten in den kommenden Wochen und Monaten entwickelt,“ erklärt Hadrys das Problem.

Turnhallen für Flüchtlinge: "Leider wieder Realität" 

Im niedersächsischen Lüneburg sind die ersten Turnhallen bereits in Betrieb. Hier rechnet man mit 1.000 weiteren Flüchtlingen, die man bis Ende März aufnehmen muss, sagt Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch. Auch Lüneburg setzt vor allem auf dezentrale Unterbringungen. „Ziel ist es, allen Schutzsuchenden und Hilfsbedürftigen, die in der Stadt unterzubringen sind, ein Dach über dem Kopf zu bieten, unabhängig vom Status und der Herkunft“, erklärt die Bürgermeisterin. „Das ist unsere Aufgabe und die Herausforderung dieser Zeit: Denn freier Wohnraum ist in Lüneburg nahezu nicht vorhanden.“ Derzeit ist auch die alte Hansestadt dabei, Container für die Unterbringung anzumieten. „Die Container sind bestellt, die Lieferfristen sind aber lang.“ Dazu sind in Lüneburg bislang zwei Turnhallen als Sammelunterkünfte in Betrieb, eine Dritte soll im Dezember hinzukommen. „Turnhallen sind fast das letzte Mittel der Wahl - schlimmer wären nur Zeltstädte. Aber tatsächlich: Wir haben aktuell keine Alternativen.“  Oberstes Gebot müsse es sein, dass die Menschen so kurz wie möglich in den Turnhallen bleiben, und man schnell Anschlusslösungen findet. „Diese Unterbringung ist für die Flüchtlinge belastend - aber auch für die Stadtgesellschaft, wenn der Vereins- und auch Schulsport nicht mehr wie gewohnt stattfinden kann,“ spürt die Bürgermeisterin die Situation in der Stadt. Manchmal indes gibt es auch Erfolgserlebnisse. So konnte die Stadt Lüneburg eine komplette Kindergruppe aus einem ukrainischen Waisenhaus im Juni in einem angemieteten Gebäude in der Lüneburger Innenstadt unterbringen. Zuvor waren sie notdürftig in der Jugendherberge versorgt worden: Kein optimaler Ort für Kinder und Jugendliche, die nach einer schweren Familiengeschichte nun auch noch unter den Traumata der Flucht aus einem Bürgerkriegsland litten.

Die Diskussion über die Kostenübernahme für die Flüchtlinge geht weiter 

Patentrezepte zur Unterbringung der ukrainischen Flüchtlinge haben die Städte und Gemeinden derzeit nicht. Man lebt von der Hand in den Mund, was den Wohnungsmarkt angeht. Man mietet Container an, räumt Sporthallen. Und die Kosten für die kommunalen Haushalte steigen und steigen. Die Oberbürgermeister und Bürgermeister von Coesfeld, Lüneburg und Solingen unterstützen deswegen die Forderung des Deutschen Städtetags nach einer vollständigen Übernahme der Unterkunftskosten für ukrainische Flüchtlinge durch den Bund, wie es schon in den Jahren 2015 und 2016 der Fall war. „Wir sind als Kommunen sehr gern  bereit, Menschen, die vor Krieg fliehen, mit ganzer Kraft zu unterstützen – aber die Lage ist herausfordernd, ernst und in vielen Fällen sind Kommunen an ihrer Grenze der Belastung angekommen“, sagt der Vizepräsident des Deutschen Städtetags, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung. „Aber wir brauchen eine finanzielle Entlastung vor Ort.“ Immerhin: Gespräche über eine bessere Finanzierung laufen. Und bei einem Treffen von Bund, Ländern und Kommunen im Oktober versprach Innenministerin Nancy Faeser den Kommunen, weitere 56 Bundesimmobilien mit 4.000 Plätzen für die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Doch bedenkt man die Zahlen, die die Kommunen in den letzten Monaten erlebt haben, wird auch das nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein sein. „Wir brauchen eine stärkere europäische Steuerung und Verteilung der Flüchtlinge“, fordert Jung. Denn zu einer Situation, in der Menschen nicht mehr untergebracht werden können, darf es in Deutschland auch in diesem Winter nicht kommen.

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