Unter dem Strich leiden die Kommunen

Mit der Straßenprostitution gehen Städte in Deutschland ganz unterschiedlich um. Bonn und Saarbrücken verfolgen völlig verschiedene Strategien und haben doch beide das gleiche Ziel: die Prostitution in kontrollierte Bahnen zu lenken.

Eine leere Dose Redbull ist die einzige Hinterlassenschaft auf dem „Verrichtungsgelände“ hinter dem Bonner Straßenstrich. Bei Tag wirkt der Ort, an dem es nachts „heiß hergeht“ nüchtern und wenig einladend.
Sechs Holzverschläge, die im Amtsdeutsch als „Verrichtungsboxen“, im Volksmund auch als „Vögelhäuser“ bezeichnet werden, stehen auf dem Gelände zwischen Bahngleisen und Heizkraftwerk. Diese Carports ähnlichen Boxen auf dem überwachten Grundstück bieten den Prostituierten Schutz, wenn sie dort im Auto der Freier ihrem Gewerbe nachgehen.
Das Verrichtungsgelände ist eine Maßnahme der Stadt Bonn, um die Straßenprostitution nach Protesten der Anwohner an anderer Stelle in kontrollierte Bahnen zu lenken. Seit den 1960er Jahren hatte die Straßenprostitution im Bereich zwischen Propsthof und Gerhard-Domagk-Straße in der Bonner Weststadt floriert.
Um die Jahrtausendwende weitete sich die Straßenprostitution dort immer mehr aus – unter anderem in direkter Nachbarschaft zu zwei Chemie-Instituten der Uni. Die Studentinnen wurden zunehmend von Freiern belästigt, der Hausmeister musste täglich die Hinterlassenschaften des horizontalen Gewerbes beseitigen.
In spontanen Protesten zogen die Studentinnen aufreizend gekleidet und grell geschminkt vors Bonner Rathaus. Die Stadt musste reagieren. Doch die Suche nach alternativen Straßenzügen für den Strich gestaltete sich schwierig, zumal man die Szene von Schulwegen, Kindergärten, Wohngebieten und Bürokomplexen fernhalten musste.
Man besann sich schließlich auf das Beispiel der Nachbarstadt Köln, die als erste deutsche Stadt Erfahrungen mit Verrichtungsboxen gesammelt hatte. Zum 1. Januar 2011 wurde auch in Bonn ein entsprechendes Gelände eingerichtet – und zwar an der Immenburgstraße, gleich um die Ecke der Gerhard-Domagk-Straße, wo es zuvor die Proteste gegeben hatte. Der Clou: Bonn „verdrängte“ die Straßenprostitution nicht irgendwo an die Peripherie, sondern verlagerte sie nur um ein paar hundert Meter innerhalb des gleichen Bezirks.
Und zwar in einen Sektor, in dem sich bereits ein großes Bordell befand und wo sonst nicht viel los ist: Gewerbe, ein Heizkraftwerk, Eisenbahnanlagen, Müllverbrennung. Die hinführende Immenburgstraße wurde auf 400 Metern als „Anbahnungszone“ für Prostituierte und Freier markiert – und zwar im Wortsinn mit einem dicken weißen Strich auf den Gehwegen.
Mit einer zeitgleich in Kraft getretenen Sperrbezirksverordnung ist die Prostitution nur noch in diesem Gebiet erlaubt, der Rest der Stadt ist tabu. Als ebenso wichtig wie die Verordnung selbst entpuppten sich Kontrollen von Polizei und Ordnungsamt am alten „Strich“. Immer seltener mussten dort Bußgelder verhängt werden. Mittlerweile ist die Gegend um die Uni-Institute als Strich völlig außer Gebrauch.
In Bonn scheinen die Verrichtungsboxen ein Erfolgsmodell zu sein. „Es hat von Anfang an funktioniert“, freut sich Elke Palm vom städtischen Presseamt. Ausländische Medien und Kommunen haben sich bereits erkundigt. Im August 2013 wurde nach Bonner Beispiel der erste Schweizer „Sex-Drive-in“ in Zürich eröffnet.
Um 20 Uhr erwacht die graue Straße mit dem schmalen Grünstreifen zwischen den rauchenden Schornsteinen von Heizkraftwerk und Müllverwertungsanlage zum Leben. Etwa 20 Prostituierte bieten dort jede Nacht ihre Dienste an. Zur gleichen Zeit werden auch die tagsüber verschlossenen Tore des Verrichtungsgeländes von einem Wachmann geöffnet.
Der bezieht dann Posten in einer Art Bürocontainer auf dem Gelände und überprüft die Funktion der Notsignale. Jede Verrichtungsbox verfügt über einen roten Panikknopf auf der Beifahrerseite. Durch die gezielte Platzierung der Mülltonnen in dem Holzverschlag sind die Freier gezwungen, ihre Autos so in die Boxen zu lenken, dass die Fahrerseite jeweils von der Holzpalisade blockiert wird. Die Dame auf der Beifahrerseite hingegen kann ungehindert aussteigen und den Panikknopf drücken, falls sie sich bedroht fühlt.
Bis auf die Mülltonnen sind die Holzverschläge auf grauem Asphalt leer, die „Verrichtung“ findet grundsätzlich im Auto statt. Die Stadt Bonn hat allerdings auch an Freier ohne Auto gedacht: Für Fußgänger und Radfahrer gibt es eine kleinere separate und im Gegensatz zu den anderen überdachte Box. Auch diese ist leer, ohne Sitz-, geschweige denn Liegemöglichkeit. „Hier soll es auch gar nicht gemütlich sein, das ist schließlich kein Hotelbetrieb“, erklärt Helmut Beines vom Ordnungsamt der Stadt Bonn.
Die Herstellung des Verrichtungsgeländes mit den einfachen Holzverschlägen hat die Stadt 135.000 Euro gekostet. Für Wachdienst und Grundstückspacht kommen jährliche Betriebskosten von 100.000 Euro hinzu.
Eine Platzordnung regelt das Verhalten auf dem Gelände. „Nach jeder Nutzung ist die Verrichtungsbox sauber zu verlassen“, ist dort zu lesen. Hygiene ist ein wichtiges Plus für die Prostituierten, die ihre Notdurft früher zum Teil im Freien verrichten mussten. Auf dem von der Stadt zur Verfügung gestellten Verrichtungsgelände haben sie Zugang zu Toiletten und fließendem Wasser.
Eine Sozialarbeiterin und eine Ärztin bieten den Frauen zweimal pro Woche Hilfe an. In einem Containerbüro neben den Holzverschlägen haben sie dann Sprechstunde und ein offenes Ohr, wenn die häufig vom Schicksal gebeutelten Damen von ihren Sorgen und Nöten erzählen. Die Sozialarbeiterinnen können auch helfen, wenn eine der Frauen aus dem Gewerbe aussteigen will.
Schon als der Straßenstrich noch weitgehend unkontrolliert stattfand, boten Sozialarbeiterinnen und Gesundheitsamt regelmäßig von einem Wohnmobil aus ihre Unterstützung an. So etwas muss sehr diskret ablaufen, damit hilfesuchende Frauen keine Probleme mit ihren Zuhältern bekommen, so Elke Palm: „Dieser Job ist nicht ungefährlich“, auch wenn das Verrichtungsgelände „zuhälterfreie Zone“ ist.
Einen ganz anderen Weg ist die Stadt Saarbrücken gegangen. Dort hatte man zunächst nur wenige Sperrbezirke in der direkten Innenstadt, doch mit den Jahren nahm die Straßenprostitution immer weiter zu, bis sie 2013 zu massiven Beschwerden führte.
Saarbrückens Pressereferent Thomas Blug spricht von einem „europäischen Thema“: Zum einen hatte man an der Saar mit der „Elendsprostitution“ von zugewanderten Frauen aus Osteuropa zu tun, zum anderen schien aber auch die unmittelbare Grenznähe zu Frankreich eine Rolle zu spielen, wo die Prostitution seit 2003 verboten ist.
Bordelle, Straßenprostitution und das öffentliche Anwerben werden in Frankreich nicht geduldet, demnächst drohen den Freiern vermutlich empfindliche Geldstrafen und „Aufklärungslektionen gegen käuflichen Sex“, wie in der „Welt“ zu lesen war. Vorbild für einen solchen Umgang mit der Prostitution ist unter anderem Schweden.
Mit einer neuen Sperrbezirksverordnung konzentrierte Saarbrücken den Straßenstrich auf wenige Bereiche, orientiert vor allem an den bekannten Standorten der Prostituierten. Außerdem sei eine zeitliche Beschränkung auf die Nachtstunden durchgesetzt worden, so der Pressereferent. Seither fänden die „Verkaufsverhandlungen“ wenigstens nicht mehr statt, wenn viele Kinder auf dem Schulweg sind.
Um für die Sicherheit der Frauen auf dem Strich zu sorgen, finden in Saarbrücken engmaschige Kontrollen durch Polizei und kommunalen Ordnungsdienst statt. Sozialarbeiter des Vereins „Aldona“, einer Beratungsstelle für Prostituierte, sind verstärkt im Einsatz. Seit Inkrafttreten der neuen Sperrbezirksverordnung sind keine gewalttätigen Übergriffe von Freiern auf Prostituierte bekannt geworden. Auch die Beschwerden sind weniger geworden.
Kritiker bemängeln allerdings, dass die Frauen nur aus dem Blickfeld verschwunden seien. Bei der Stadt ist man sich des Verdrängungsprozesses durchaus bewusst. Thomas Blug von der Pressestelle: „Uns war klar, dass wir die Prostitution damit nicht an der Wurzel packen. Als Kommune haben wir aber nur beschränkte Möglichkeiten.“ Saarbrücken hofft auf eine Verschärfung des Prostitutionsgesetzes durch den Bund.
Saarbrückens Frauenbeauftragte Petra Messinger erklärt, warum sich die Stadt gegen Verrichtungsboxen entschieden hat. Ihr Anliegen sei es gewesen, „Angebot und Nachfrage“ auf dem Strich zu verknappen. Ohne Schutz und Zugang zu Hygienemöglichkeiten finde dort die entwürdigendste Form der Prostitution statt – und die wolle man nicht noch mit baulichen Maßnahmen fördern.
Mit der neuen Sperrbezirksverordnung hat Saarbrücken den Straßenstrich von 547 Kilometern (!) auf drei verkürzt. Es sei nun für die Polizei einfacher, Einblick in die Szene und Überblick über die Hintermänner zu bekommen, denn „es ist davon auszugehen, dass die Prostitution immer auch mit Zuhälterei und Menschenhandel einhergeht“, so Thomas Blug.
Anhand der geltenden Gesetzeslage sei die Kontrolle allerdings grundsätzlich schwierig, schließlich bestehe weder eine Anmeldepflicht, noch müssten die Prostituierten (anders als früher) verpflichtende Gesundheitsuntersuchungen nachweisen. „Heute ist es leichter, ein Bordell aufzumachen, als eine Frittenbude“, ärgert sich der Pressereferent.
In der Stadt Bonn verbucht die Polizei seit der Konzentration des Straßenstrichs am Verrichtungsgelände einen Rückgang an Straftaten. Besonders viele Einsätze habe man allerdings im Rotlichtmilieu noch nie gehabt, so Robert Scholten von der Pressestelle der Bonner Polizei.
„Wir haben in Bonn einen klassischen Straßenstrich. Hinweisen auf Zuhälterei gehen wir natürlich nach, aber sie bilden bisher keinen Schwerpunkt unserer Arbeit.“ Zuwanderinnen aus Osteuropa sei man mit Kontrollen auf Illegalität in Zusammenarbeit mit dem Ausländeramt begegnet, eine Schwemme wie in anderen Städten habe man in Bonn aber nicht registriert.
Anders in Dortmund. Nach Köln im Jahr 2001 übernahm auch die Stadt im Ruhrgebiet wenig später das Modell der Verrichtungsboxen für ihren Straßenstrich, auf dem zunächst etwa 60 Prostituierte ihren Körper anboten. Lange Zeit galt das Dortmunder Projekt als Vorbild: Das Gelände war gut ausgeleuchtet, wurde gut angenommen. Regelmäßig boten Sozialdienst und Ärzte in Sprechstunden ihre Hilfe an.
Das änderte sich 2007 mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union. Binnen kürzester Zeit stellte sich eine Flut von Frauen aus dem ehemaligen Ostblock in Dortmund ein, die auf dem Straßenstrich anschaffen gingen. Die Zahl der Prostituierten stieg auf mehr als das Zehnfache, so Dortmunds Pressereferent Hans-Joachim Skupsch.
Diesem Andrang waren die drei als Strich vorgesehenen Straßen nicht gewachsen, geschweige denn das Verrichtungsgelände und sein Umfeld. Wegen der ausufernden Straßenprostitution und der „Verrichtung“ auch außerhalb des dafür eingerichteten Geländes, kam es zur akuten Jugendgefährdung. Menschenhändler und andere zwielichtige Gestalten übernahmen die Kontrolle. Kurzum: Stadt und Polizei mussten die Notbremse ziehen. Die Verrichtungsboxen wurden abgerissen. Seither versucht Dortmund, das gesamte Stadtgebiet als Sperrbezirk durchzusetzen.
Die Idee der Verrichtungsboxen kam ursprünglich aus den Niederlanden. In Utrecht wurden die ersten 1986 in der Nähe des Straßenstrichs, der sogenannten „Tippelzone“, aufgestellt. Ziel war schon damals, die Straßenprostitution in kontrollierte Bahnen zu lenken und den Frauen relative Sicherheit zu bieten.
Ein Großteil der Verrichtungsboxen in Holland wurde inzwischen wieder abgeschafft, unter anderem in Amsterdam, Rotterdam und Eindhoven. Ähnlich wie in Dortmund waren die Tippelzonen nach dem Zustrom aus Osteuropa zur Quelle von Drogenkriminalität und Menschenhandel geworden.
In Bonn hingegen funktioniert die Sache, allerdings sind die Erfahrungen (seit 2011) auch noch recht jung. Einen besonderen Coup hat sich die Stadt für die Eintreibung der „Sexsteuer“ einfallen lassen: Auf dem Verrichtungsgelände hat man einen umgebauten Parkschein-Automaten aufgestellt, an dem die Frauen jeden Abend ein Steuer-Ticket über sechs Euro ziehen müssen. Während an die Bordelle ein Steuerbescheid versandt werden kann, waren die Straßenprostituierten bisher für den Fiskus nur schwer greifbar. In dem kontrollierten Gebiet müssen die Mädchen nun immer ein gültiges Ticket vorzeigen können.
Allein auf dem Straßenstrich bezog Bonn im Jahr 2014 Steuereinnahmen in Höhe von 45.000 Euro. Das sind knapp 15 Prozent der gesamten Einnahmen aus dieser besonderen Form der Vergnügungssteuer, die 2014 bei insgesamt 304.000 Euro lagen. Viele andere Städte interessieren sich für den effizienten Steuer-Automaten aus der ehemaligen Bundeshauptstadt. Elke Palm: „Anfragen kamen bis aus New York.“

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