Wir brauchen "spinnerte Ideen"

Umfragen zufolge ist er der unbekannteste Minister Deutschlands. Christian Schmidt, Minister für Ernährung und Landwirtschaft und damit zuständig für den ländlichen Raum. Christian Erhardt-Maciejewski hat den Mann getroffen, der seinen Umzug nach Berlin als persönlichen Kulturschock beschreibt und sich privat am Liebsten um den Streuobstwiesenbestand in seinem Familienbetrieb in Mittelfranken kümmert.

KOMMUNAL: Sie sprechen von dem Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Angesichts der demografischen Entwicklung – ist das nicht Augenwischerei?
Christian Schmidt: Nein, ist es nicht. Der Maßstab für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist ja nicht die Gleichartigkeit. Vielmehr gilt: Die Grundbedürfnisse müssen überall in Deutschland befriedigt werden. Zwischen Stadt und Land wird es immer Unterschiede geben. In beiden Bereichen gibt es Positives und Negatives. So sind üblicherweise die Lebenshaltungskosten auf dem Land niedriger, dafür sind die Kommunikationsmöglichkeiten und die Infrastruktur oft weniger gut entwickelt als in der Stadt. Es geht darum, durch geschickte Organisation, etwa beim ÖPNV, die ländlichen Räume weiter attraktiv zu halten.  Das kann etwa über Sammelbusse oder Sammeltaxen geschehen.
Was konkret wollen Sie denn tun, um dem demografischen Wandel ein Schnippchen zu schlagen?
Wir müssen vor allem die jungen Menschen in den Regionen halten. Es gibt da durchaus Beispiele dafür, dass es im ländlichen Raum Zuwächse geben kann. Das gilt nicht nur für Orte rund um Ballungszentren sondern auch für Städte und Gemeinden, die eine hohe Attraktivität zum Beispiel im klimatischen oder auch im Freizeitbereich bieten oder auch besondere Attraktivität etwa für Wissenschaftler. Im Kern geht es darum, dass man beispielsweise in relativ kleinen Kommunen eine Basisversorgung im medizinischen Bereich vorhalten kann. Das Prinzip heißt: "Mach aus weniger Angebot mehr an Nutzen!"
Jenseits von Förderprogrammen von Bund und Ländern - was kann der Bürgermeister vor Ort in schrumpfenden Gemeinden tun?  
Wir sind als Bund vor allem Ideen- und Stichwortgeber. Die Ideen kommen meist aus den Betroffenen Kommunen und Regionen, wir setzen sie dann in „Best-Practice“ Modellprojekten um und unterstützen diese auch finanziell. Der Bürgermeister etwa in Oberammergau, der sich überlegen muss, was er in den neun Jahren zwischen den Festspielen macht, wird sicher auf die Attraktivitätssteigerung achten, wird darauf achten, dass schnelles Internet verfügbar ist und wird sich vielleicht fragen, wo er vielleicht Gewerbe gerade im Dienstleistungsbereich etablieren kann. Dabei hat er im Gegensatz zu manchen anderen Kommunen voran den Vorteil, in einer weltbekannten Gemeinde in wunderschöner Lage  zu wirken. Andere haben dieses Prä nicht. Nirgendwo fällt der Erfolg vom Himmel.
Um Kommunen zu unterstützen wollen Sie auch einen Sachverständigenrat „Ländliche Region“ ins Leben rufen. Was verstehen Sie darunter, was soll der leisten?  
Ich möchte da vor allem Querdenker drin haben, Menschen bitten, sich zu beteiligen, die „spinnerte Ideen“ haben, wie ich das in meiner Heimat bezeichnen würde. „Spinnerte Ideen“, die im normalen Verwaltungshandeln schon den zweiten Entwurf nicht mehr erleben würden. Ich glaube, da geht uns ein Stück Kreativität verloren. Wir wissen eben nicht alles, wir müssen uns mal alles anschauen und dürfen erst dann entscheiden – genau dafür benötigen wir einen solchen Beirat. Die Politik darf dem Bürger nicht erklären, was er machen muss, sondern wir müssen dem ganz normalen Bürgen mehr urteilsfrei zuhören, da kann viel Gutes und Neues entstehen.
Bisher haben Sie sich eher einen Namen als Sicherheits- und Außenexperte gemacht. Wie fühlt sich der Schritt von der Weltpolitik in die Niederungen des lokalen Geschehens vor Ort für Sie an?
So neu ist das für mich gar nicht: Ich habe mich ja mit Standortveränderungen und Schließungen vor allem im ländlichen Raum befasst. Da war ich faktisch immer außerhalb der Ballungsräume. In den Höhen des Bayerischen Waldes, im Weserbergland oder im Schwarzwald. Insofern sind mir die Probleme der Regionen wohl vertraut.
Die ländliche Region ist ja ohnehin Ihre Heimat – sie wohnen in der knapp 3000 Seelen Gemeinde Obernzenn in Mittelfranken. War Berlin für Sie ein Kulturschock?
Ja. Man muss lernen, sich in beiden Bereichen zu bewegen, aber man gibt nie ganz seine Herkunft auf. Bei mir ist das in der Tat der sehr geschützte ländliche Raum mit einer enormen ehrenamtlichen Aktivität der Menschen. Ich selbst war von der evangelischen Jugend über den Jugendkreisleiter und den Schützenverein und Sportverein eigentlich überall – ich habe das ganze Programm durchgemacht, das es da noch gibt. Ich stelle fest, dass es das nur eine Generation später eben nicht mehr überall gibt. Und das ist ein weiterer Ansatzpunkt, den ich im Sinne von Bürgerbeteiligung sehe. So was hätte ich vermutlich nicht, wenn  ich in Berlin aufgewachsen wäre. Hier weiß ich zumeist ja nicht, wer mein Nachbar ist, das kenne ich eben ganz anders.
Wenn Sie sagen: Ehrenamtliches Engagement wird weniger – woran liegt das und was können Kommunen tun, damit das wieder mehr wird?
Die Feuerwehren sind ja glücklicherweise noch eine rühmliche Ausnahme, finden ihre jungen Mitglieder. Die Kulturvereine hingegen sind sehr unter Druck, ich sehe, dass dort die Attraktivität nicht mehr da ist. Ich hoffe, dass sich da Neues, für junge Menschen Attraktives entwickelt.
Was kann man tun? Wir müssen junge Menschen zu fragen, was sie wollen, was sie interessiert, da darf der Kreativität keine Grenze gesetzt sein. Übrigens: solche Versuche und Ideen sind eine Investition der Kommunen in die eigene Zukunft.
Zum Schluss bitten wir Sie, folgende Sätze zu ergänzen: Wenn ich eine komplette Woche in Obernzenn verbringe, dann...
…gehe ich oder fahre ich mit dem Fahrrad durch den Ort, komme mit dem Grüßen nicht hinterher, weil ich jeden kenne und würde mich dann besonders um unsere Flächen, z.B. Den Streuobstwiesenbestand kümmern.
Wenn ich Bürgermeister von Obernzenn wäre, dann...
… würde ich wie der neue junge Bürgermeister von heute sehr darauf schauen, dass neue Leute nach Obernzenn kommen und dass sich Dienstleister ansiedeln.
Wenn ich in Rente gehe, dann...
… habe ich mit meiner Frau noch viel vor, und will das gut planen.

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