Initiativen gegen Tristesse
Aufbruch Ost: Der Osten erfindet sich neu
Was ein kleines, aber hochmotiviertes und gut vernetztes Team auf die Beine stellen kann, zeigt das Mehrsparten-Kulturfest „Lausitz Festival“, das längst über Weißwasser hinaus strahlt: Konzerte, Theater, Installationen, Vortragsreihen und philosophische Diskurse. „Im Jahr 2022 haben wir im Rahmen dieses Festivals 50 Veranstaltungen an 25 Orten der sächsischen und brandenburgischen Lausitz durchgeführt. Inklusive einer Shakespeare-Aufführung. Das war nicht großartig, sondern geradezu bombastisch“, strahlt Sebastian Krüger noch immer begeistert.
Wir müssen den Transformationsprozess einfach mal aushalten – und ein zweites Mal erwachsen werden“
Was in Weißwasser durch den Aufbruch erreicht wurde
Der Oberbürgermeister der Stadt ist begeistert. Torsten Pötzsch, seit 2010 im Amt, weiß, was das Zentrum für seine Stadt bedeutet: „Mit der Initiative wurde die Chance genutzt, geschichtsträchtigen, fast unbegrenzt vorhandenen Raum und ein cooles Ambiente mit inhaltlichen Aufgaben zu füllen. Zudem liegt das Zentrum nahe dem Marktplatz, ist barrierefrei zu erreichen und zieht fast schon magisch Akteure vom Unternehmer bis zum freischaffenden Künstler an.“ Sebastian Krüger unterhält – natürlich – einen guten Draht zum Rathaus – sieht in der Zusammenarbeit mit der Kommune aber durchaus noch Verbesserungspotential. „Torsten Pötzsch ist in Weißwasser genauso sozialisiert wie ich. Wie ich ist er eine starke Stimme für die Region und sicherlich auch eine Art Mit-Visionär. Beides ist ein Glücksfall für Weißwasser“, betont der 44-Jährige. Aber als Herr der Verwaltung stoße dieser natürlich auch an Grenzen. Manchmal könne man, sagt Krüger, schon den Eindruck gewinnen, dass Prozesse in ihrer praktischen Umsetzung beschleunigt werden könnten. Zugleich habe eine moderne Verwaltung heute auch die Verantwortung, aktiv nach Möglichkeiten der Umsetzung zu suchen, statt immer nur darauf zu verweisen, was nicht gehe.
Eine vergleichbare Anziehungskraft wie das alte Fabrikgelände in Weißwasser haben auch die sogenannten „Stadtmenschen“. Eine von ihnen ist Anja Fehre. Sie ist im thüringischen Altenburg zuhause und war nur fürs Studium „mal kurz weg“ - in Leipzig. Altenburg kämpft wie viele andere Städte im Osten mit den bekannten Problemen: eine fast halbierte Infrastruktur, ein großer Leerstand, Überalterung. „Unser Kleid ist mittlerweile ein paar Nummern zu groß“, sagt Anja Fehre und sieht dennoch großes Potential und das liegt auch – an den „Stadtmenschen“. Das Projekt ist eine Gemeinschaftsinitiative, an der Altenburger Sozialunternehmen, Einzelpersonen, Initiativen und Vereine beteiligt sind. Als Koordinatorin fungiert die „Erlebe was geht gGmbH“, bei der Anja Fehre beschäftigt ist. Regelmäßig werden die Bürgerinnen und Bürger ermuntert, eigene Projekte zu entwickeln und die Bürgerschaft über Annahme oder Ablehnung entscheiden zu lassen. Die Liste der Veranstaltungen und Kultur-Orte, die seit Gründung der „Stadtmenschen“ im Jahr 2016 organisiert beziehungsweise geschaffen wurden ist lang: Stadtmensch-Festival, Quartieranker, Open-Lab, Farbküche, Demokratie-Campus, Kunstgarten, Spielcafe, Kulturspäti, Künstlerresidenzen und der Altenburger Hofsalon. Anja Fehre: „Mein persönliches Highlight war zuletzt die Wallstreetgalerie. In einer schmalen Gasse hat ein Fotograf Bilder aufgehängt und beleuchtet. Sinnbild für unsere Überzeugung: Das ist unsere Stadt und unser Raum – und wir sind mitverantwortlich dafür“, sagt sie und fügt an: „Vielleicht erleben wir deshalb auch so gut wie keinen Vandalismus.“
Ganz ohne die Kommune geht natürlich auch in Altenburg nichts. „Zu Beginn gab es im Rathaus schon die Angst, dass da eine Chaostruppe die Stadt aufmischen will. Mittlerweile haben wir die Skeptiker allerdings beruhigen können,“ sagt Anja Fehre und lacht. „Wir sind eine Stadtmacherbewegung mit einem Plan, mit Methodik, mit know-how und einer großen Zielstrebigkeit. Heute hören wir auch schon mal Sätze wie: Typen wie euch hätten wir auch gerne in der Stadtverwaltung.“ Kein Wunder: Die Stadtmenschen tun dem Image der Stadt gut und erfolgreich sind sie noch dazu. Anja Fehre: „Wir haben seit unserem Bestehen 1,5 Millionen Euro Fördermittel nach Altenburg geholt und eine Menge Expertise dazu.“ Expertise, die von den Rathaus-Mitarbeitern noch zu wenig genutzt werde. „Auch bei uns steht innerhalb der Verwaltung ein Generationenwechsel an. Wir würden uns freuen, wenn sich die Erkenntnis im Rathaus durchsetzen würde: Bei den Stadtmenschen kann man lernen, wie man Leidenschaft für die eigene Stadt entwickelt und ein bisschen mehr Leidenschaft statt Bürokratie würde Altenburg ganz gut tun“, unterstreicht Anja Fehre. Dann setzt sie mit Blick auf die politischen Kräfte in Stadt, Land und Bund noch eins drauf: „Leider hat sich auch noch nicht rumgesprochen, dass es gut ist, wenn Projektemacher auch mal scheitern. Eine Möglichkeit, die in keinem Projekt- oder Förderantrag vorgesehen ist. Dabei kann man aus gescheiterten Projekten so viel lernen.“
Das Gefühl von Aufbruch hat viel mit den Lebensgeschichten der Menschen zu tun
Lernen – das sollte eine Lebensaufgabe sein und für Marion Kristin Zosel-Mohr ist es das auch. Die 66-Jährige aus Stendal musste in ihrem Leben häufig von vorne anfangen. „Als Maschinistin für Kernkraftwerksanlagen und als Berufsberaterin konnte ich nach der Wende ja einpacken“, sagt sie und lacht. Ob als Mitarbeiterin der Versicherungsbranche oder als Sozialpädagogin, engagiert, sagt sie, sei sie immer gewesen. Heute ist sie Vorstandsvorsitzende der von ihr gegründeten Freiwilligenagentur Altmark e.V., einem Verein, in dem viele Organisationen, die Stendaler Ortsteile, lokale Initiativen sowie die großen Player vom Deutschen Roten Kreuz bis zur Diakonie vertreten sind. Drei Jahre hat die Gründung des Vereins gedauert. Marion Kristin Zosel-Mohr weiß warum: „Wir bringen unsere Städte nur voran, wenn alle Akteure ihre Kräfte bündeln. Leider scheitert das in der Realität häufig, weil Einzelne glauben, im Wettbewerb um Projekte und Fördergelder die anderen ausstechen zu müssen.“ Seit dem zähen Beginn hat der Verein eine Menge erreicht: Es gibt eine Hausaufgabenhilfe für Schüler, die Integrationsarbeit „Freunde treffen Freunde“ für Neubürger, Nachhaltigkeitswochen und eine Freiwilligenwoche mit bis zu 50 Aktionen in allen Teilen der Stadt. Während dieser Zeit werden in Stendal zum Beispiel Jugendclubs gemeinsam renoviert und Schulgärten bepflanzt. Mit Kommunalverwaltungen hat Marion Kristin Zosel-Mohr überwiegend positive Erfahrungen gemacht, insbesondere durch das Netzwerkprogramm „Engagierte Stadt“.
“Ich bin geradezu ein Fan“, sagt sie lachend und fügt dann an: „Vielleicht weil ich mich in deren Handlungslogik gut einfinden kann.“ Einen weniger schönen Eintrag ins Stammbuch macht sie der Politik dennoch: „Die Politik muss umdenken und mehr Vertrauen in die Bürgerschaft entwickeln. Menschen wollen sich ja zumeist engagieren – wenn die Rahmenbedingungen stimmen und sie nicht das Gefühl haben, instrumentalisiert zu werden.“
Bei allem Optimismus, ein Kritikpunkt verbindet alle drei Akteure: Obwohl Sebastian Krüger, Anja Fehre und Marion Kristin Zosel-Mohr optimistisch sind, dass ihre Städte auf einem guten Weg sind, alle drei plagt das „liebe Geld“. Sebastian Krüger: „Fünfzig Prozent unserer täglichen Arbeit besteht aus der Frage: Wie überstehen wir dieses Jahr und wie generieren wir die zumeist etwa zehn Prozent Eigenmittelanteil für Fördergelder? Die Risiken, die wir eingehen sind groß – auch finanziell.“ Die Kommunen hätten, sagt er, genügend Probleme mit der Daseinsvorsorge und Länder und Bund machten sich in Sachen Kultur oft einen ganz schlanken Fuß und wälzten alles auf das Ehrenamt ab. Große finanzielle Unterstützung für die Kultur kann sich auch seine Stadt nicht leisten. Der Oberbürgermeister bedauert: „Eine ländlich geprägte Kommune wie Weißwasser ist haushalterisch zumeist schlecht gestellt – die freiwilligen Aufgaben müssen deshalb oft zurückstecken. Um es zu verdeutlichen: Die Stadt braucht das Zentrum, aber das Zentrum nicht die Stadt.“ In Altenburg wurde das Projekt Stadtmensch von 2019 bis 2021 im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik vom Bundesinnenministerium gefördert. Eine gute Sache, aber nichts, auf das man eine kontinuierliche Arbeit gründen könnte. Marion Kristin Zosel-Mohr bringt die Misere auf den Punkt: „Das ewige Klinkenputzen und der stetig wachsende Papierkram lassen mich um Jahre altern. Als Vorstand hafte ich ja auch persönlich, unter bestimmten Umständen sogar mit dem Privatvermögen. Das ist kein Spaßfaktor. Man muss schon sehr überzeugt oder ein bisschen sein, um dennoch weiterzumachen.“
Aufbruch mit dem Ziel: "Ein zweites Mal erwachsen werden"
Altenburg, Stendal, Weißensee: Gute Beispiele dafür, wie bürgerschaftliches Engagement Kommunen neue Attraktivität verleihen kann. Sebastian Krüger sieht darin aber nur einen Anfang. Fast 35 Jahre nach der Wende, sagt er, brauche es im Osten einen umfassenden Erneuerungsprozess. Ein mühsamer Prozess am lebenden Objekt, wie er das nennt: „Hier im Osten prallen ja sehr unterschiedliche Lebensrealitäten und Weltsichten aufeinander und die Pole liegen weiter auseinander als das vielleicht anderswo der Fall ist. Das müssen wir Schritt hin zu einer Transformation jetzt einfach mal aushalten – und ein zweites Mal erwachsen werden.“