Digitalisierung
IW-Chef: Besser gut geklaut als schlecht selbst gemacht
Digitalierung - Behörden klammern sich an Formulare
Ein Beispiel: Während der Corona-Pandemie haben die Gesundheitsämter der Kommunen nur langsam ein einheitliches Kontaktverfolgungssystem installiert, die Einigung auf die Software Sormas dauerte viel zu lange, flächendeckend umgesetzt wurde es bis heute nicht. Stattdessen verfolgten viele Ämter die Verbreitung des Virus auf Papier. Geschäfte wurden geschlossen, Schülerinnen und Schüler konnten nicht mehr unterrichtet werden und das gesellschaftliche Leben kam zum Teil zum Erliegen –nicht, weil die Situation so bedrohlich war, sondern weil die Gesundheitsämter mit der Nachverfolgung überfordert waren. Deutsche Behörden klammern sich noch immer an Formulare, Dokumente und bürokratische Abläufe. Wer Krisen im deutschen Föderalismus dezentral bewältigen möchte, muss dafür Sorge tragen, dass die Schnittstellen zwischen Bund, Ländern und Kommunen reibungslos funktionieren.
Wenn Deutschland in den kommenden Jahrzehnten die genannten großen Herausforderungen meistern will, braucht es Geld und Tempo – bürokratische und veraltete Prozesse konterkarieren beides. Das lässt sich auch empirisch gut belegen: In den USA ist der bürokratische Aufwand zur Gründung eines Unternehmens 33 Prozent niedriger als hierzulande.
Wären wir so schnell wie die Vereinigten Staaten, wären schätzungsweise 15 Prozent mehr Gründungen möglich. In der langen Frist sind digitale Verwaltungsprozesse nicht nur der wirtschaftlichen Entwicklung zuträglich, sondern entlasten auch Behörden und schaffen so Raum für neue Aufgaben. Ein Blick in die Wirtschaftswelt zeigt, dass es besser gehen kann. In vielen großen und mittelständischen Unternehmen ist die Digitalisierung längst ein fester Bestandteil der Arbeitswelt. Gerade im B2B-Bereich gibt es für Unternehmen große Potenziale, die mit Hilfe von digitalen Prozessen ausgeschöpft werden.
Verwaltung muss sich an der Lebenswirklichkeit orientieren
Auch das Leben der Bürger in Deutschland ist in den vergangenen zwei Jahrzenten sehr viel digitaler geworden: Im Netz wird mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit genauso geshoppt wie gearbeitet. Verwaltung muss sich an der Geschwindigkeit und der Lebenswirklichkeit der Unternehmen und der Bürger orientieren – nicht umgekehrt.
Gemessen an digital verfügbaren staatlichen Leistungen, schafft Deutschland international allenfalls einen Platz im unteren Mittelfeld. 2017 hat die Bundesregierung mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG) sowohl den Bund als auch Länder und Kommunen dazu verpflichtet, 575 Verwaltungsleistungen bis Ende des Jahres online verfügbar zu machen. Die Realität ist weit davon entfernt, einzuhalten ist dieser Termin längst nicht mehr
Deutschland kann sich bei anderen Ländern etwas abschauen
Zwar gibt es Teams aus Bundes-, Landes- und Kommunalkräften, die gemeinsam digitale Lösungen erarbeiten. Die Bundesebene könnte allerdings viel stärker unterstützen und Führung wahrnehmen, etwa indem die Föderale IT-Kooperation „FITKO“ zu einer schlagkräftigen Digitalagentur ausgebaut wird. Das ebenfalls föderal strukturierte Österreich liefert mit dem Bundesrechenzentrum ein Best-Practice-Beispiel. Auch in Dänemark und Schweden kann sich die deutsche Verwaltung vieles abschauen. Es gilt: Besser gut geklaut als schlecht selbst gemacht.
Mitarbeiter müssen davon überzeugt werden, dass die Digitalisierung Segen ist und kein Fluch.“
Mit schnelleren Systemen und besseren Schnittstellen ist es aber noch nicht gemacht – was fehlt, ist ein Wechsel in der Kultur der Verwaltungen und des Verwaltungshandelns. Wenn Unternehmen vor großen strukturellen Veränderungen stehen, leistet das Change-Management Umsetzungshilfe. Mitarbeiter müssen davon überzeugt werden, dass die Digitalisierung Segen ist und kein Fluch. In vielen Behörden dominiert noch Unsicherheit: Wie wird mein Arbeitsalltag in Zukunft aussehen? Werde ich mehr arbeiten müssen? Kann ich das überhaupt lernen und leisten? Auf diese und weitere Fragen müssen die Verantwortlichen kluge und zufriedenstellende Antworten liefern. Digitalisierung findet zwar auf einer technischen Ebene statt, doch auch die kulturellen und persönlichen Dimensionen dürfen nicht vergessen werden.
Michael Hüther ist Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft.
