Europäischer Gerichtshof
Kopftuchverbot in öffentlicher Verwaltung
Kopftuchverbot - das Urteil
Die Schaffung eines vollständig neutralen Verwaltungsumfelds stellt ein solches Ziel dar, auch in Bezug auf Mitarbeitende ohne Publikumskontakt. Voraussetzung ist jedoch, dass das Ziel der „exklusiven Neutralität“, das sich eine Gemeinde gesetzt hat, tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird und sich das Verbot des Tragens religiöser Zeichen auf das absolut Notwendige beschränkt.
Die Entscheidung des Gerichtshofs überrascht nicht. Sie gesellt sich in eine Reihe von Entscheidungen, in denen er Kopftuchverbote am Arbeitsplatz für rechtmäßig gehalten hat. Auch bei privaten Unternehmen kann das Bedürfnis nach Neutralität betriebliche Regelungen rechtfertigen, die das Tragen jeglicher religiösen und weltanschaulichen Symbole verbieten, solange sie alle Mitarbeiter gleichermaßen treffen. So hatte der EuGH im Jahr 2021 im Fall einer Heilerziehungspflegerin und einer Drogeriemarktmitarbeiterin entschieden. Jedoch reicht der bloße Wille des Arbeitgebers, unternehmensinterne Neutralitätspolitik betreiben zu wollen, nicht aus. Er muss nachweisen, dass ein wirkliches Bedürfnis für eine solche Regelung besteht. Dies kann sich beispielsweise aus den Rechten und berechtigten Erwartungen der Kunden oder Nutzer ergeben
Wertungsspielraum eingeräumt
Dabei räumt die europäische Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie jedem Mitgliedstaat im Rahmen des notwendigen Ausgleichs der verschiedenen Rechte und Interessen einen Wertungsspielraum ein, um dem jeweiligen Kontext der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und ein gerechtes Gleichgewicht zwischen diesen Rechten und Interessen zu gewährleisten.
Diesen Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten betont der EuGH nun auch für den öffentlichen Sektor. Er ist größer, je stärker Belange der nationalen Identität – etwa das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität – berührt sind. Das gilt besonders vor dem Hintergrund, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum in Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion einräumt. Dieser Gestaltungsspielraum besteht auch bei der Ausgestaltung der Neutralität des öffentlichen Dienstes.
Kopftuchverbote eine Frage nationaler Gesetzeslage
Nun auch mehr Rechtssicherheit für die deutsche Verwaltung? Kopftuchverbote bleiben damit eine Frage nationaler Gesetzeslage. Wegen des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten ist es zulässig, dass nationale Vorschriften höhere Anforderungen an die Rechtfertigung einer mittelbar auf der Religion beruhenden Ungleichbehandlung stellen als das europäische Unionsrecht. Die nationalen Gerichte sind im Streitfall zur Entscheidung berufen, ob diese Anforderungen erfüllt sind und ein angemessener Ausgleich zwischen der Religionsfreiheit und den Zielen, die das Verbot rechtfertigen sollen, hergestellt worden ist.
Die Antwort kann je nach Tätigkeitsbereich unterschiedlich ausfallen: Während das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2015 entschieden hat, dass ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen auf Fälle einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden beziehungsweise die staatliche Neutralität beschränkt bleiben muss, räumte es dem Gesetzgeber im Jahr 2020 bei Rechtsreferendarinnen einen größeren Spielraum ein. Anders als im Bereich der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, in der sich gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll, trete der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber.
Kopftuchverbote bleiben eine Frage nationaler Gesetzeslage.“
Berliner Neutralitätsgesetz
Viel Beachtung fand in diesem Zusammenhang das Berliner Neutralitätsgesetz, das ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte enthielt. Im Jahr 2020 legte das Bundesarbeitsgericht die Regelung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einschränkend dahingehend aus, dass ein Kopftuchverbot nur beim Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität infrage kommt, wenn zuvor alle anderen in Betracht kommenden Maßnahmen erschöpft sind. Im Ergebnis wurde das Land Berlin zu einer Entschädigungszahlung an die betroffene Lehrerin verurteilt, eine von Land Berlin dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.
Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel zum Kopftuch
In diesem Sinn hatte schon das Verwaltungsgericht Kassel im Jahr 2018 den Fall einer Jugendamtsmitarbeiterin entscheiden. Ein Verbot, das sich allein auf die Annahme einer von einem Kopftuch ausgehenden abstrakten Gefahr stützt, sei rechtlich unzulässig. Die verklagte Stadt habe keine tragfähigen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer konkreten Gefahr für Dritte oder die staatliche Neutralität vorgetragen. Zwar ist das erstinstanzliche Urteil noch nicht rechtskräftig. Ob das aktuelle Urteil des EuGH die deutschen Ober- und Bundesgerichte aber in eine andere Richtung lenken wird, mag bezweifelt werden.
Für die kommunale Verwaltung gilt daher bis auf Weiteres: Kopftuchverbot ja, aber nur in Ausnahmefällen, wenn eine konkrete Störung des Dienstfriedens oder der staatlichen Neutralität nicht mit anderen Mitteln verhindert werden kann. (EuGH, Urt. v. 28.11.2023 – C-148/22)
