Dr. Reiner Klingholz © Sabine Sütterlin

"Wir brauchen weniger Zentralismus"

22. Dezember 2014
Dr. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, über Herausforderungen und Chancen des demografischen Wandels.

Mit der Studie „Stadt für alle Lebensalter. Wo deutsche Kommunen im demografischen Wandel stehen und warum sie altersfreundlich werden müssen“ will Dr. Reiner Klingholz die Kommunen ermuntern, den demografischen Wandel nicht als Schicksalsschlag zu verstehen, sondern das Zusammenleben neu zu gestalten und auch die Chancen des Wandels zu nutzen. KOMMUNAL: Seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass die Bundesrepublik langfristig an Bevölkerung verlieren wird. Dennoch wird hierzulande erst seit vergleichsweise kurzer Zeit über Fragen der Bevölkerungsentwicklung und Altersverteilung diskutiert. Hat Deutschland den demografischen Wandel verschlafen? Reiner Klingholz: Das kann man in der Tat so sagen. Die wesentlichen Zahlen und Fakten liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Doch die Politik hat sich darum lange Zeit nicht gekümmert. Mitunter hatte man sogar den Eindruck, dass bestimmte Befunde bewusst unter den Teppich gekehrt worden sind. Dabei wäre gerade Deutschland gut beraten gewesen, sich den möglichen Auswirkungen des demografischen Wandels so früh wie möglich zu stellen. Zwar altert und schrumpft die Bevölkerung auch in anderen Ländern Europas, aber - außer in Japan – nirgends so bald und so rasch wie in Deutschland. Nach derzeitigen Berechnungen wird 2050 rund der dritte Einwohner Deutschlands älter als 64 Jahre sein, jeder achte über 80. Schon heute liegt das Medianalter, das die Bevölkerung in eine jüngere und eine ältere Hälfte teilt, in Deutschland bei 45,3 Jahren. Im Durchschnitt der EU-28-Länder hingegen bei nur 41,9 Jahren. Viele Bürger haben Angst vor den Folgen des demografischen Wandels. In Diskussionen oder Veröffentlichungen zum Thema wird von einer „Vergreisung“ der Gesellschaft gewarnt, die die sozialen Sicherungssysteme zum Einsturz zu bringen drohen. Was halten Sie von solchen Horror-Szenarien? Ich will die Herausforderungen, die mit dem demografischen Wandel verbunden sind, nicht kleinreden. Aber das Leben verändert sich durch die demografische Entwicklung nicht nur zum Negativen. Ältere Menschen können heute viel mehr aus ihrem Leben machen als noch vor ein paar Jahren oder Jahrzehnten. Den Begriff des Ruhestandes, der unsere Eltern noch kannten, gibt es heute in dieser Form nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Rentner, die sich auf die symbolische „Parkbank“ setzen. Viele Menschen bleiben bis ins hohe Alter hinein aktiv. Sie sind bereit, ihr Wissen in die Gesellschaft zu tragen. Wir haben es mit einer Bevölkerungsgruppe zu tun, die viel für die Gesellschaft tun kann – und in gewisser Weise auch muss. Im Grundgesetz wird ja noch eine „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ gefordert. Ist dieses Ziel überhaupt realistisch? Nein. Dazu sind die Unterschiede zwischen den Kommunen einfach zu groß. Nicht alle Gebiete Deutschlands sind gleichermaßen stark vom demografischen Wandel betroffen. Manche Kommunen schrumpfen seit Jahren, andere wachsen durch Zuwanderung und/oder Geburtenüberschuss. Es gibt Städte und Gemeinden, die eher für junge Leute attraktiv sind. Andere wiederum ziehen Menschen an, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen und nach einem angenehmen „Altersruhesitz“ Ausschau halten. Fest steht: Die wirtschaftsstarken Städte sind die klaren Gewinner des demografischen Wandels. Im ländlichen Raum fern der Zentren gibt es völlig andere Probleme. Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Möglichkeiten der politischen Entscheidungsträger, der Abwanderung und der Überalterung zu begegnen, sehr beschränkt sind. Brauchen wir als letzte Konsequenz aus der demografischen Entwicklung eine „Abwrackprämie“ für aussterbende Dörfer? Sie selbst haben einmal geschrieben, das Schrumpfen sei konstruktiv zu begleiten. Ist das nicht zynisch? Immerhin geht es für viele Menschen auch um den Verlust ihrer Heimat. Ich habe den Eindruck, dass sich Menschen immer dann gegen die Zerstörung ihrer Heimat stemmen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen von außen etwas weggenommen werden soll, an dem sie hängen. Die Proteste gegen die Zerstörung von Dörfern durch den Braunkohleabbau in der Lausitz sind dafür ein klassisches Beispiel. In Regionen, aus denen viele Menschen freiwillig fortziehen, sollte sich die Politik eine andere Frage stellen: Was wollen die Bürgerinnen und Bürger denn selbst? Es gibt immer mehr ältere Menschen, die sich wünschen, aus der Peripherie in die nah gelegene Kleinstadt zu ziehen. Sie wollen nicht die Linde in ihrem Heimatdorf rauschen hören, sondern kurze Wege zum Arzt oder zum Einkaufszentrum. Sie wollen barrierefreie Wohnungen, die sie in den Dörfern kaum finden. Gerade ältere Menschen sind auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen. Es kann nicht Aufgabe der Kommunalpolitik sein, diese abwanderungswilligen Menschen zu behindern. Im Gegenteil: Eigentlich müsste man sie unterstützen. Es fällt auf, dass in Ihrer Studie fast ausschließlich von den Kommunen die Rede ist. Bund und Länder kommen allenfalls am Rande vor. Ist der demografische Wandel nicht eine Mammutaufgabe, die von den Kommunen unmöglich alleine gelöst werden kann? Es sind nun einmal die Kommunen und nicht die Bundesländer oder die ganze Republik, die die Folgen des demografischen Wandels als erste zu spüren bekommen. Sie sind es, die mit ihren Mitteln und Möglichkeiten versuchen müssen, Alterung und gegebenenfalls den Bevölkerungsrückgang zu gestalten. Um diese Aufgabe zu meistern, brauchen die Kommunen engagierte Bürger, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbringen. In unserer Studie haben wir zehn strategische Schritte erarbeitet, die eine Kommune beachten soll, wenn sie zu einer „Stadt für alle Lebensalter“ werden will. Dazu gehören Fitnessangebote für verschiedene Altersgruppen, Beratungs-, Kultur- und Freizeitangebote für ältere Menschen, aber auch die Ernennung eines Alters- oder Demografiebeauftragten. Viele Kommunen, insbesondere solche, die ohnehin knapp bei Kasse sind, dürften finanziell kaum in der Lage sein, solche Aufgaben zu schultern. Führt Ihre Forderung, die Herausforderungen des demografischen Wandels vor Ort zu meistern, nicht unweigerlich dazu, dass Bund und Länder sich aus der Verantwortung stehlen? Keineswegs. Es ist Aufgabe des Bundes, den rechtlichen Rahmen vorzugeben und die Kommunen, mit den nötigen finanziellen Mitteln zu versorgen, damit sie ihre Pflichtaufgaben erfüllen können. Der Bund sollte bestimmte Standards formulieren und dafür sorgen, dass sie auch eingehalten werden. Was wir aus meiner Sicht auf gar keinen Fall brauchen, sind zentralistische Antworten. Die kann es schon alleine deshalb nicht geben, weil die Ausgangssituation und die Herausforderungen in den Kommunen völlig verschieden sind. Städte wie Bottrop oder Hoyerswerda müssen ganz anders auf den demografischen Wandel reagieren als Freiburg oder Berlin. Die Verantwortlichen in den Kommunen wissen in der Regel selbst am besten, welche Probleme sie haben und welche Potentiale sie nutzen können. Von daher sollte sowohl die Handlungs- als auch die Finanzautonomie der Kommunen dringend gestärkt werden. Die Verantwortung für die Gestaltung des demografischen Wandels gehört in die Hände der Kommunen. Sie sind es, die unter enger Einbindung der Bürger kreative Lösungen erarbeiten können und müssen. Anders gesagt: Wir brauchen mehr Demokratie und weniger Zentralismus.