Wohnungsbau-Gesetz in der Praxis
So nutzen Sie die Möglichkeiten des Bauturbo
- Durchschnittliche Bebauungsplanverfahren: 5 Jahre
- Anteil der Planungszeit an Bauprojekten: 85%
- Tatsächliche Bauzeit: 15%
Typische Stolpersteine im bisherigen System
- Zeitfresser Bebauungsplan: Jede kleinere Änderung erfordert ein mehrjähriges Planverfahren
- Überlastete Bauämter: Personalmangel führt zu monatelangen Wartezeiten
- Starre Vorschriften: Bestehende Bebauungspläne verhindern sinnvolle Nachverdichtung
- Rechtsunsicherheit: Kommunen scheuen flexible Lösungen aus Angst vor Klagen
Folgen von Verzögerungen
- Für Kommunen: Imageschaden, fehlende Steuereinnahmen, Abwanderung bzw. Verhinderung von Zuwanderung
- Für Bauverantwortliche: Pro Monat Verzögerung ca. 0,5-1% höhere Finanzierungskosten
- Volkswirtschaftlich: Jährlich mehrere Milliarden Euro durch verzögerte Projekte
Das müssen Sie wissen: Rechtliche Grundlagen kompakt
Was ist der Bauturbo?
Der „Bauturbo" ist die befristete Sonderregelung gemäß § 246e Baugesetzbuch (BauGB), die im Oktober 2025 in Kraft getreten ist und bis einschließlich Dezember 2030 gilt. Kernidee: Kommunen können mit ihrer Zustimmung von fast allen bauplanungsrechtlichen Vorschriften abweichen – wenn das Vorhaben dem Wohnungsbau dient.
Die wichtigsten Rechtsgrundlagen
§ 246e BauGB: Die Sonderregelung
Mit Zustimmung der Gemeinde kann von Vorschriften des BauGB abgewichen werden für:
- Neubau von Wohngebäuden
- Erweiterung/Änderung bestehender Gebäude zur Schaffung neuer Wohnungen
- Nutzungsänderung zu Wohnzwecken (zum Beispiel Gewerbe zu Wohnen)
Wichtig: Die Abweichung muss „unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar" sein.
§ 36a BauGB: Das Zustimmungsverfahren
- Fiktive Genehmigung: Die Zustimmung gilt als erteilt, wenn die Kommune nicht binnen drei Monaten widerspricht.
- Optionale Öffentlichkeitsbeteiligung: Die Kommune kann eine einmonatige Stellungnahmefrist einräumen (dann verlängert sich die Frist auf vier Monate).
- Unwiderruflich: Die Zustimmung kann später nur noch im Rahmen einer Klage gegen die Baugenehmigung überprüft werden.
§ 31 Abs. 3 BauGB: Befreiung vom Bebauungsplan
Erweiterte Möglichkeiten zur Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus.
§ 34 Abs. 3b BauGB: Abweichung vom Einfügungsgebot
Im unbeplanten Innenbereich kann vom Erfordernis des „Einfügens" abgewichen werden – ebenfalls mit Zustimmung der Kommune.
Ermessensspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten
Die Kommune entscheidet:
- ob sie den Bauturbo überhaupt anwendet (keine Pflicht!)
- für welche Vorhaben sie ihn nutzt
- ob eine Öffentlichkeitsbeteiligung stattfindet
- unter welchen Bedingungen sie zustimmt
Die Kommune kann Auflagen machen: Beispiel: „Zustimmung unter der Bedingung, dass mindestens 30 Prozent geförderte Wohnungen entstehen."
Wichtige Einschränkungen
- Nicht möglich im Außenbereich (außer in direktem räumlichem Zusammenhang zu Siedlungen)
- Keine Umgehung von Umweltprüfungen bei voraussichtlich erheblichen Umweltauswirkungen
- Keine Anwendung auf Industrievorhaben oder andere Nicht-Wohnprojekte
Häufige Rechtsfehler und deren Vermeidung
| Fehler | Folge | Vermeidung |
| Keine überschlägige Umweltprüfung | Rechtswidrigkeit der Zustimmung | Immer Umweltamt einbinden |
| Nachbarinteressen nicht gewürdigt | Evtl. erfolgreiche Anfechtungsklage | Anrainer anhören, dokumentieren |
| Versäumnis der 3-Monats-Frist | Automatische Genehmigung | Fristkalender führen, Wiedervorlage |
| Unzureichende Begründung bei Ablehnung | Klage des Bauverantwortlichen | Ablehnungsgründe präzise dokumentieren |
Schritt-für-Schritt-Anleitung: So wenden Sie den Bauturbo an
Phase 1: Vorbereitung und Grundsatzentscheidung
Schritt 1: Politische Willensbildung
Zuständigkeit: Bürgermeisterin/Bürgermeister, Bauausschuss, Gemeinderat
Handlungsschritte:
- Informieren Sie den Gemeinderat über die neuen Möglichkeiten (nutzen Sie dafür zum Beispiel die Webinare des BMWSB)
- Diskutieren Sie grundsätzliche Haltung: Will Ihre Kommune den Bauturbo nutzen?
- Definieren Sie Rahmenbedingungen:
- Für welche Stadtteile/Gebiete kommt der Bauturbo in Frage?
- Welche Kriterien müssen Vorhaben erfüllen? (zum Beispiel Quote für geförderten Wohnraum)
- Wird grundsätzlich eine Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt?
Zu klärende Fragen:
- Gibt es in unserer Kommune akuten Wohnraumbedarf?
- Welche politischen Vorgaben gelten (zum Beispiel Klimaschutz, sozialer Wohnungsbau)?
- Wie gehen wir mit möglichen Protesten um?
Schritt 2: Verwaltungsinterne Organisation
Zuständigkeit: Bauamtsleitung, Stadtplanungsamt
Handlungsschritte:
- Benennen Sie einen Bauturbo-Koordinator (Ansprechperson für Antragsteller)
- Schulen Sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (auch hier können Sie auf die Online-Beratungen des Bundes zurückgreifen)
- Erstellen Sie interne Verfahrensanweisungen
- Richten Sie ein Fristenkontrollsystem ein (zum Beispiel digitaler Kalender mit Wiedervorlage)
- Binden Sie relevante Fachämter ein:
- Umweltamt (für überschlägige Umweltprüfung)
- Rechtsamt (für rechtliche Bewertung)
- Tiefbauamt (für Erschließungsfragen)
Checkliste: Interne Vorbereitung
[ ] Koordinator benannt und bekannt gemacht
[ ] Mitarbeiter geschult (Webinar absolviert)
[ ] Fristenkontrollsystem eingerichtet
[ ] Interne Verfahrensanweisung erstellt
[ ] Zuständigkeiten im Haus geklärt
[ ] Mustervorlagen für Zustimmung/Ablehnung vorbereitet
[ ] Informationsblatt für Bauverantwortliche erstellt
Phase 2: Antragsbearbeitung und Entscheidung
Schritt 1: Antragseingang und Vorprüfung
Zuständigkeit: Bauamts-Sachbearbeiter, Bauturbo-Koordinator
Was trifft ein:
- Bauantrag mit Hinweis auf § 246e BauGB oder
- Voranfrage von Bauverantwortlichen/Investoren
Sofortmaßnahmen:
- Empfangsbestätigung an Antragstellerinnen und Antragsteller
- Frist notieren: Drei Monate ab Eingang (beziehungsweise vier Monate bei Öffentlichkeitsbeteiligung)
- Vollständigkeitsprüfung durchführen
- Zuordnung zu einer Sachbearbeiterin oder einem Sachbearbeiter
Checkliste: Ist das Vorhaben Bauturbo-geeignet?
[ ] Vorhaben dient dem Wohnungsbau (Neubau, Erweiterung, Umnutzung)
[ ] Grundstück liegt im Innenbereich oder in direktem räumlichem Zusammenhang
[ ] Antrag wurde bis 31.12.2030 gestellt
[ ] Antragsteller hat explizit auf § 246e BauGB verwiesen (sonst nachfragen!)
Falls nicht Bauturbo-geeignet: Normales Baugenehmigungsverfahren durchführen
Schritt 2: Überschlägige Prüfung
Zuständigkeit: Sachbearbeiter in Zusammenarbeit mit Fachämtern
Was ist zu prüfen:
A) Überschlägige Umweltprüfung (§ 246e Abs. 1 Satz 2 BauGB)
- Gibt es voraussichtlich zusätzliche erhebliche Umweltauswirkungen?
- Falls ja: Strategische Umweltprüfung (SUP) erforderlich
- Falls nein: Weiteres Verfahren möglich
Praxis-Tipp: Das Wort „zusätzlich“ ist wichtig. Wenn das Vorhaben eine bereits baulich genutzte Fläche ersetzt (zum Beispiel ein altes Gewerbegebäude zu einem Wohnhaus), sind die Auswirkungen oft nicht „zusätzlich“.
B) Würdigung nachbarlicher Interessen
- Werden Abstandsflächen eingehalten?
- Sind Lärmimmissionen für Nachbarn zumutbar?
- Führt das Vorhaben zu unzumutbarer Verschattung?
- Wird die nachbarliche Wohnsituation erheblich beeinträchtigt?
C) Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen
- Verkehrserschließung gesichert?
- Ver- und Entsorgung gewährleistet?
- Vereinbarkeit mit kommunalen Entwicklungszielen?
- Brandschutz, Denkmalschutz beachtet?
Praxis-Hinweis: Holen Sie frühzeitig Stellungnahmen der Fachämter ein. Verzögerungen entstehen meist durch lange interne Abstimmungen.
Schritt 3: Entscheidung über Öffentlichkeitsbeteiligung
Zuständigkeit: Bauamtsleitung und gegebenenfalls Bürgermeisterin oder Bürgermeister
Wann ist eine Öffentlichkeitsbeteiligung sinnvoll?
- Bei größeren Vorhaben (ab circa 20 Wohneinheiten)
- Bei zu erwartenden Protesten
- Wenn es politisch gewollt ist
- Bei grundsätzlichen städtebaulichen Weichenstellungen
Vorteile:
- Mehr Akzeptanz in der Bevölkerung
- Frühzeitige Erkennung von Problemen
- Geringeres Klagerisiko
Nachteile:
- Verlängerung der Frist auf vier Monate
- Organisatorischer Aufwand
- Mögliche Mobilisierung von Gegnern
Wenn ja: Öffentlichkeitsbeteiligung organisieren
- Bekanntmachung im Amtsblatt und auf der Website
- Auslegung der Unterlagen (digital und/oder im Rathaus)
- Stellungnahmefrist: maximal ein Monat
- Auswertung der Stellungnahmen
- Würdigung in der Entscheidungsbegründung
Schritt 4: Entscheidungsfindung
Zuständigkeit: Bauamtsleitung, Rechtsamt, gegebenen falls Bürgermeisterin oder Bürgermeister, sowie Gemeinderat
Option A: Zustimmung erteilen
Voraussetzungen:
- Alle Prüfungen positiv
- Keine erheblichen Umweltauswirkungen
- Nachbarinteressen gewahrt
- Öffentliche Belange gewahrt
Dokument: Zustimmungsbescheid mit:
- Bezug auf § 36a BauGB
- Bezug auf das konkrete Vorhaben
- Begründung
Option B: Zustimmung unter Auflagen
Mögliche Auflagen:
- „Mindestens 30 Prozent der Wohnungen müssen preisgebunden sein"
- „Erdgeschosszone muss für nicht störende Gewerbe nutzbar bleiben"
- „Mindestens 50 Prozent der Stellplätze mit Ladeinfrastruktur"
- „Begrünung der Dachflächen"
Option C: Zustimmung verweigern
Wichtig: Die Ablehnung muss begründet werden.
Typische Ablehnungsgründe:
- Erhebliche Umweltauswirkungen
- Unzumutbare Beeinträchtigung der Nachbarschaft
- Erschließung nicht gesichert
- Widerspruch zu kommunalen Entwicklungszielen
- Nicht mit öffentlichen Belangen vereinbar
Option D: Nichts tun (= fiktive Genehmigung)
Achtung: Wird innerhalb von drei (beziehungsweise vier) Monaten keine Entscheidung getroffen, gilt die Zustimmung als erteilt.
Wann sinnvoll? Eigentlich nie! Besser: Aktiv entscheiden, auch wenn positiv.
Phase 3: Nachbereitung und Qualitätssicherung
Schritt 1: Bescheiderteilung und Information
Zuständigkeit: Bauamts-Sachbearbeiter
Handlungsschritte:
- Bescheid an Bauherrn versenden (Einschreiben oder elektronisch mit Signatur)
- Kopie an Genehmigungsbehörde (wenn Kommune nicht selbst zuständig)
- Information betroffener Nachbarn (bei Zustimmung keine Pflicht, aber empfohlen)
- Interne Dokumentation für Monitoring
Schritt 2: Rechtsbehelfsfrist abwarten
Gegen die Zustimmungsentscheidung kann nicht direkt geklagt werden. Rechtsbehelfe sind nur gegen die spätere Baugenehmigung möglich.
Praxis-Tipp: Trotzdem empfiehlt sich eine Wartefrist von circa vier Wochen, um zu sehen, ob sich Widerstand formiert.
Schritt 3: Monitoring und Evaluation
Zuständigkeit: Bauturbo-Koordinator
Dokumentieren Sie:
- Anzahl der Bauturbo-Anträge
- Bearbeitungsdauer
- Zustimmungs-/Ablehnungsquote
- Anzahl der geschaffenen Wohneinheiten
- Klagen/Rechtsbehelfe
- Lessons Learned
Berichtspflicht: Das BMWSB evaluiert die Regelung bis Ende 2029. Ihre Daten helfen dabei.


