Stillen im Serverraum
Familienfreundlichkeit: Warum eine Stadträtin entnervt aufgegeben hat
KOMMUNAL: Frau Kraft, Sie haben gerade erst Ihr Mandat niedergelegt. Ein Hauptgrund war die mangelnde Vereinbarkeit von politischen Ehrenamt und Familie. Als Sie 2019 mit der Arbeit im Stadtrat begonnen haben, hatten Sie bereits ein Kind. Wie haben Sie Politik und Familie damals unter einen Hut gebracht?
Sophia Kraft: Mein Sohn war damals schon vier und im Kindergarten. In der restlichen Zeit habe ich mir mit meinem Mann die Kinderbetreuung geteilt. Außerdem habe ich meine Stelle in der Strategieabteilung bei der Europäischen Energiebörse auf 80 Prozent reduziert. Das hat anfangs sehr gut funktioniert.
Dann kam die Corona-Pandemie, zudem wurde Ende 2020 Ihre Tochter geboren. Wie hat sich das auf Ihre politische Tätigkeit ausgewirkt?
Das war ein enormer Einschnitt. Durch Corona ist die Kinderbetreuung komplett weggebrochen, im gleichen Zuge aber haben sich die Stadtratssitzungen fast verdoppelt, weil die ganzen Corona-Termine mit dazu kamen. Hinzu kam die finanzielle Dimension. Mein Mann hatte als Musiker durch die Pandemie enorme finanzielle Einbußen, und als unsere Tochter geboren wurde und ich Elternzeit genommen habe, hat sich herausgestellt, dass mir die Aufwandsentschädigung für den Stadtrat von meinem Elterngeld abgezogen wird. Ich habe also in den 14 Monaten, in denen ich Elternzeit genommen habe, komplett umsonst für den Stadtrat gearbeitet; noch dazu musste ich die Kinderbetreuung finanzieren. Dadurch habe ich letztlich sogar draufgezahlt und in der Zeit auch viel Erspartes aufgebraucht.
Während der Pandemie fanden viele Sitzungen ja zwangsläufig digital statt. Haben Sie das nicht auch als Vorteil erlebt für die Familienvereinbarkeit?
Nur kurz. Die erste Sitzung nach der Geburt meiner Tochter fand digital statt und da konnte ich tatsächlich vom Wochenbett aus teilnehmen – das war toll. Allerdings löst eine digitale Sitzung auch nicht grundsätzlich die Frage der Kinderbetreuung. Gerade Kleinkinder beschäftigen sich ja nicht einfach mit sich selbst und man kann sie auch nicht die ganze Zeit wegorganisieren. Im Leipziger Stadtrat sind wir ohnehin schon ab März 2021 wieder zu physischen Stadtratssitzungen übergegangen. Da war mein Kind erst vier Monate alt und musste noch voll gestillt werden.
Wie haben Sie das gelöst?
Ich habe mein Baby oft mitgenommen und auch mitten im Stadtrat gestillt. Natürlich erntet man da manchmal seltsame Blicke und wird als Frau schnell mal als fachlich nicht so kompetent wahrgenommen, wenn man ein Kind an der Brust hat. Damit bin ich recht souverän umgegangen, aber selbstverständlich kann man nicht so hochkonzentriert arbeiten, vor allem, wenn die Sitzungen sieben bis acht Stunden am Stück dauern. Ein Problem war auch die fehlende Infrastruktur vor Ort. Kinder sind im Rathaus schlicht nicht vorgesehen und es gibt hier keinen Raum, in den sich etwa meine Babysitterin zurückziehen oder ich zum Stillen hingehen konnte. Ich bin dann teilweise in den Technikraum gegangen, wo der ITler gerade den Live-Stream übertragen hat.
Welche Zeit hat Ihr politisches Ehrenamt insgesamt in Anspruch genommen?
Ich war in zwei verschiedenen Ausschüssen, die alle zwei Wochen circa drei Stunden tagen ab 17 Uhr. Zusätzlich gibt es in der Theorie pro Monat eine Stadtratssitzung, die 7 Stunden dauert, wobei davor noch eine Stunde Fraktionssitzung ist. Durch Corona hatten wir nun immer zwei solcher Stadtratssitzungen pro Monat. Außerdem hatten wir einmal pro Woche eine dreistündige Fraktionssitzung. Hinzu kamen noch die vierteljährlichen Aufsichtsratssitzungen, die verschiedenen Beiratssitzungen, Stiftungssitzungen und Bürgertermine, nicht zu vergessen die Vor- und Nachbereitungszeit all dieser Termine. Zudem ist mein Fachgebiet ja die Energiewirtschaft und die urbane Energiewende, also ein Feld, in dem es viel fachliche Expertise braucht, sich die Regularien ständig ändern und man sich sehr intensiv vorbereiten und weiterbilden muss.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie aufhören müssen?
Das war am Ende meiner Elternzeit, als ich den Jobeinstieg vor mir hatte. Ich arbeite in der Privatwirtschaft, habe viele Nachmittagstermine im Job, zudem bricht durch die andauernde Pandemie und den Personalmangel in der Kita ständig die Kinderbetreuung weg. Das wurde mir schnell klar: Das wird angesichts der Sitzungszeiten, der fehlenden Infrastruktur und des erheblichen Umfangs der Aufgaben im Stadtrat nicht funktionieren.
Haben Sie über einen Kompromiss nachgedacht?
Es kam es für mich nie in Frage, dieses Amt nur mit halber Energie wahrzunehmen. Mir wurde von meiner Fraktion zwar das Angebot gemacht, dass ich mich etwas zurücknehme und nicht meine 150 Prozent gebe, die ich normalerweise gebe. Aber dieses Verständnis habe ich nicht von Ehrenamt. Ich klebe nicht nur des Mandats wegen am Mandat, ich finde, man muss es bestmöglich erfüllen und man hat ja den Auftrag der Wählerinnen und Wähler. Aber ich werde meiner Partei weiterhin als Beraterin zur Verfügung stehen.
War also letztlich die Corona-Pandemie Auslöser für Ihren Ausstieg?
Nein. Corona hat das Ganze nochmal auf den Gipfel getrieben und es uns Frauen nur noch schwerer gemacht, in die Politik zu gehen. Aber die Strukturen sind allgemein einfach überhaupt nicht familienfreundlich.
Was müsste sich ändern, damit das politische Ehrenamt familienfreundlicher wird?
Da könnte man viel tun. Erstens: es darf keine Nachteile mehr geben für Menschen die Care-Arbeit leisten und es kann nicht sein, dass einem die Entschädigung dafür dann sogar vom Elterngeld abgezogen wird. Das habe ich auch schon auf Bundes- und Länderebene angebracht. Zudem muss es eine Betreuungspauschale geben, damit man einen finanziellen Ausgleich hat. Zweitens müssen vor Ort Strukturen geschaffen werden, damit man das Kind mitbringen und es vor Ort entsprechend betreut werden kann. Der dritte Punkt betrifft die Planbarkeit: Im Job weiß ich ja auch, wie lange ein Meeting geht oder eine Schicht. Es kann nicht sein, dass Sitzungen statt der geplanten zwei dann doch vier Stunden dauern. Mein Babysitter oder mein Partner müssen wissen, wann ich nach Hause komme. Sitzungen müssen klare Endzeiten haben und alles, was man bis dahin nicht schafft, muss auf die nächste Sitzung verschoben werden. Vielleicht gibt es dadurch ja auch eine Disziplinierung der Stadträte – da muss sich einfach auch die Redekultur verändern. Es sind ja meist doch die Männer, die ganz lange sprechen und nochmal das sagen, was ihr Vorredner schon gesagt hat. Ich habe zu all den Punkten Ende 2021 fraktionsübergreifend eine Initiative gestartet, um gemeinsam einen Antrag einbringen für mehr Familienfreundlichkeit. Wir hatten dafür sogar eine knappe Mehrheit. Aber ich habe deutlich gemerkt: Hier tut sich nicht so schnell was.
Woran lag das?
Das Problem ist: Wir haben zwar den Antrag, aber der Oberbürgermeister steht überhaupt nicht dahinter und die Verwaltung klemmt sich nicht dahinter, dass er umgesetzt wird. Nachdem wir den Antrag im Dezember 21 eingereicht haben, läuft nun das Verfahren, zu dem der Oberbürgermeister erst einmal seine Meinung kundtun muss. Dafür hat er ein halbes Jahr gebraucht – um einen Satz zu schreiben, nämlich, dass er die Forderungen so nicht aufnehmen kann und erst einmal ein Konzept erstellt werden soll bis September. Das heißt, nun wird ein Konzept erstellt, das dann vermutlich ein Jahr nach Einreichung des Antrags vorliegen wird. Und dann muss dieses erstmal noch umgesetzt werden. Das kann also dauern…
Hatten Sie in den vergangenen drei Jahren das Gefühl, als Frau mit Kind anders wahrgenommen zu werden in der Kommunalpolitik?
Die Kommunalpolitik ist ein Feld, in dem hauptsächlich Männer unterwegs sind – noch dazu in meinem Fachbereich der Energiewirtschaft. Wenn man da als Frau auch noch ein Kind dabei hat, wird man schnell als nicht kompetent eingeschätzt oder als zu emotional bewertet, wenn man über die Klimakrise spricht. Ich habe mich durch meine Fraktion im Rücken zwar immer sehr gestärkt gefühlt, aber insgesamt sind im Stadtrat selbst ja nur sehr wenige junge Frauen. Das gilt erst recht für meinen Bereich der Energiewende und die dortigen Stakeholder, also die Geschäftsführer der Beteiligungsunternehmen, der Stadtwerke, Wasserwerke, der Versorgungsgesellschaft – das sind alles Männer. Und wenn da eine Gruppe von sechs Männern zusammensteht, ist es natürlich eine Hürde, sich als junge Frau da einfach dazuzustellen und mal zu smalltalken. Man wird als Frau zwar nicht diskreditiert, aber es ist definitiv schwieriger, hier als Frau anzudocken und mitzumischen. Dabei ist es in unserer Gesellschaft so wichtig, einander zuzuhören und ganz unterschiedliche Erfahrungen und Lebenswelten einzubringen. In einer diversen Gruppe gibt es auch viel mehr verschiedene Andockstellen.
Ist für Sie denn eine Rückkehr in die Politik denkbar?
Auf jeden Fall. In der Kommunalpolitik liegt mein Herzblut und sobald ich wieder mehr Kapazitäten habe, werde ich mich sicher wieder politisch engagieren. Wir erleben im 21. Jahrhundert leider immer noch keine Gleichberechtigung und es treibt mich sehr um, zu sehen, dass es so viele Rollbacks gibt. Es sind viel zu wenige Frauen in den Parlamenten, umso mehr möchte ich mich unbedingt weiter engagieren. Zudem sehe ich die Energie- und Klimakrise: da ist so viel zu tun und es ist entscheidend, wer sich engagiert in der Politik.

